PUP bei Non Volio: Ferne Städte -
Gedankliche Orte: Germelshausen
Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/gerstaec/germelsh/germels4.htm
Teil 4
Arnold
fühlte sich im ersten Augenblicke zwischen den vielen
fremden Menschen nicht behaglich; auch die wunderliche Tracht und
Sprache der Leute stieß ihn ab, und so lieb diese harten,
ungewohnten Laute von Gertruds Lippen klangen, so rauh tönten
sie von anderen an sein Ohr. Die jungen Burschen waren aber alle
freundlich gegen ihn, und einer von ihnen kam auf ihn zu, nahm ihn
bei der Hand und sagte:
»Das ist gescheit von Euch, Herr,
daß Ihr bei uns bleiben
wollt – führen auch ein lustiges Leben, und die Zwischenzeit
vergeht rasch genug.«
»Welche Zwischenzeit?« frug
Arnold, weniger erstaunt über den
Ausdruck, als daß der Bursche so fest seinen Überzeugung
aus sprach, daß er dieses Dorf zu seiner Heimat machen
wollte. »Ihr meint, daß ich hierher
zurückkehre?«
»Und Ihr wollt wieder fort?« frug
der junge Bauer rasch.
»Morgen – ja – oder übermorgen –
aber ich komme wieder.«
»Morgen? – so?« lachte der Bursch
– »ja dann ist's schon recht –
na, morgen sprechen wir weiter darüber. Jetzt kommt, daß
ich Euch unsere Vergnügenlichkeit einmal zeige, denn wenn Ihr
morgen schon wieder fort wollt, bekämet Ihr die am Ende nicht
einmal zu sehen.«
Die anderen lachten heimlich mit einander,
der junge Bauer aber
nahm Arnold an der Hand und führte ihn im ganzen Hause herum,
das dicht gedrängt voll lustig schwärmender Gäste
war. Erst kamen sie durch Zimmer, in denen Kartenspieler
saßen und große Haufen Geldes vor sich liegen hatten,
dann betraten sie eine Kegelbahn, die mit hellglänzenden
Steinen ausgelegt war. In einem dritten Zimmer wurden Ringel- und
andere Spiele gespielt, und die jungen Mädchen liefen lachend
und singend aus und ein und neckten sich mit den jungen Burschen,
bis auf einmal ein Tusch von den Musikanten, die bis dahin lustig
fortgespielt, das Zeichen zum Beginn des Tanzes gab und Gertrud
jetzt auch an Arnolds Seite stand und seinen Arm faßte.
»Kommt, wir dürfen nicht die
Letzten sein,« sagte das
schöne Mädchen, »denn als des Schulzen Tochter
muß
ich den Tanz eröffnen.«
»Aber was für eine seltsame
Melodie ist das?« sagte Arnold,
»ich finde mich gar nicht in den Takt.«
»Es wird schon gehen,«
lächelte Gertrud; »in den ersten
fünf Minuten findet Ihr Euch hinein, und ich sage Euch wie.«
Laut jubelnd drängte jetzt alles, nur
die Kartenspieler ausgenommen,
dem Tanzsaale zu, und Arnold vergaß, in dem einen
seligen Gefühle, das wunderbar schöne Mädchen in
seinen Armen zu halten, bald alles andere.
Wieder und wieder tanzte er mit Gertrud, und
kein anderer schien
ihm seine Tänzerin streitig machen zu wollen, wenn ihn die
übrigen Mädchen im Vorbeifliegen auch manchmal neckten.
Eines nur fiel ihm auf und störte ihn; dicht neben dem
Wirtshause stand die alte Kirche, und im Saale konnte man deutlich
die grellen, mistönenden Schläge der zersprungenen Glocke
hören. Bei dem ersten Schlage derselben aber war es, als ob
der Stab eines Zauberers die Tanzenden berührt hatte. Die
Musik hört mitten im Takte auf zu spielen, die lustige
durcheinander wogende Schar stand, wie an ihre Plätze gebannt,
still und regungslos, und alles zählte schweigend die
einzelnen langsamen Schläge. Sobald aber der letzte verhallt
war, ging das Leben und Jauchzen von neuem los. So war es um acht,
so um neun, so um zehn Uhr, und wenn Arnold nach der Ursache so
sonderbaren Betragens fragen wollte, legte Gertrud ihren Finger an
die Lippen und sah dabei so ernst und traurig aus, daß er sie
nicht um die Welt hätte mehr betrüben mögen.
Um zehn Uhr wurde im Tanzen eine Pause
gemacht, und das Musikchor,
das eiserne Lungen haben mußte, schritt dem jungen Volke
voran in den Eßsaal hinab. Dort ging es lustig her; der Wein
floß nur so, und Arnold, der nicht gut hinter den
übrigen zurückbleiben konnte, berechnete sich schon im
stillen, welchen Riß dieser verschwenderische Abend in seiner
bescheidenen Kasse machen würde. Aber Gertrud saß neben
ihm, trank mit ihm aus einem Glase, und wie hätte er da einer
solchen Sorge Raum geben können! – Und wenn ihr Heinrich
morgen kam?
Der erste Schlag der elften Stunde
tönte, und wieder schwieg
der laute Jubel der Zechenden, wieder dieses atemlose Lauschen den
langsamen Schlägen. Ein eigenes Grauen überkam ihn; er
wußte selber nicht weshalb, und der Gedanke an seine Mutter
daheim zog ihm durch das Herz. Langsam hob er sein Glas und leerte
es als Gruß den fernen Lieben.
Mit dem elften Schlage aber sprang die
Gäste von den Tischen
auf; der Tanz sollte aufs neue beginnen, und alles eilte in den
Saal zurück.
»Wem habt Ihr zuletzt
zugetrunken?« frug Gertrud, als sie ihren Arm
wieder in den seinen gelegt hatte.
Arnold zögerte mit der Antwort. Lachte
ihn Gertrud vielleicht
aus, wenn er es ihr sagte? – Aber nein – so brünstig hatte
sie ja noch an dem Nachmittage an ihrer eigenen Mutter Grabe
gebetet, und mit leiser Stimme sagte er:
»Meiner Mutter.«
Gertrud erwiderte kein Wort und ging
schweigend neben ihm die
Treppe wieder hinauf – aber sie lachte auch nicht mehr, und ehe
sie wieder zum Tanze antraten, frug sie ihn:
»Habt Ihr Eure Mutter so lieb?«
»Mehr als mein Leben.«
»Und sie Euch?«
»Liebt eine Mutter ihr Kind
nicht?«
»Und wenn Ihr nicht wieder heim zu ihr
kämet?«
»Arme Mutter,« sagte Arnold –
»Ihr Herz würde brechen.«
»Da beginnt der Tanz wieder,«
rief Gertrud rasch – »kommt, wir
dürfen keinen Augenblick mehr versäumen!«
Und wilder als je begann der Tanz; die jungen
Burschen, von dem
starken Wein erhitzt, tobten und jubelten und kreischten, und ein
Lärmen entstand, das die Musik zu übertäuben drohte.
Arnold fühlte sich nicht mehr so wohl in dem Toben, und auch
Gertrud war ernst und still dabei geworden. Nur bei den anderen
allen schien der Jubel zu wachsen, und in einer Pause kam der
Schulze auf sie zu, schlug dem jungen Manne herzhaft auf die
Schultern und sagte lachend:
»Das ist recht, Herr Maler, nur lustig
die Beine geschwenkt den
Abend; wir haben Zeit genug, uns wieder auszuruhen. Na, Trudchen,
weshalb schneidest denn du so ein ernstes Gesicht? – paßt
das zu dem Tanze heint? Lustig – hei da geht's wieder los! Jetzt
muß ich meine Alte auch suchen, mit ihr den letzten Tanz zu
machen. Stellt Euch an; die Musikanten blasen schon wieder die
Backen auf!« – und mit einem Jauchzen drängte er sich durch
den Schwarm der lustigen Menschen.
Arnold umschlang wieder Gertrud zu neuem
Tanze, als diese sich
plötzlich von ihm losmachte, seinen Arm ergriff und leise
flüsterte:
»Kommt!«
Arnold behielt keine Zeit, sie zu fragen
wohin, denn sie glitt ihm
unter den Händen weg und der Saaltüre zu.
»Wohin, Trudchen?« riefen sie ein
paar der Gespielinnen an.
»Bin gleich wieder da,« lautete
die kurze Antwort, und wenige
Sekunden später stand sie mit Arnold draußen in der
frischen Abendluft vor dem Hause.
»Wo willst du hin, Gertrud?«
»Kommt!« – Wieder ergriff sie
seinen Arm und führte ihn durch
das Dorf, an ihres Vaters Haus vorbei, in das sie hineinsprang und
mit einem kleinen Bündel zurückkehrte.
»Was hast du vor!« fragte Arnold
erschreckt.
»Kommt!« war das einzige, was sie
erwiderte, und an den
Häusern vorbei schritt sie mit ihm, bis sie die
äußere Ringmauer des Dorfes hinter sich ließen.
Sie waren bis jetzt der breiten, festen und hartgefahrenen
Straße gefolgt; jetzt bog Gertrud links vom Wege ab und
schritt einen kleinen, flachen Hügel hinauf, von dem aus man
gerade auf die hellerleuchteten Fenster und Türen des
Wirtshauses sehen konnte. Hier blieb sie stehen, reichte Arnold die
Hand und sagte herzlich:
»Grüßt Eure Mutter von mir –
lebt wohl!«
»Gertrud,« rief Arnold so
erstaunt wie bestürzt – »jetzt
mitten in der Nacht willst du mich so von dir schicken? Habe ich
dir mit irgend einem Worte weh getan?«
»Nein, Arnold,« sagte das
Mädchen, ihn zum erstenmale bei
seinem Vornamen nennend, – »eben – eben weil ich Euch gern hab',
müßt Ihr fort.«
»Aber so laß ich dich nicht von
mir im Dunklen allein in das
Dorf zurück« – bat Arnold; »Mädchen, du
weißt
nicht, wie lieb ich dich habe, wie du mir das Herz in wenigen
Stunden fest und sicher gefaßt hast. Du weißt
nicht –«
»Sprecht nichts weiter,«
unterbrach ihn Gertrud rasch, »wir wollen
keinen Abschied nehmen. Wenn die Glocke zwölf geschlagen hat
– es kann kaum noch zehn Minuten dauern – so kommt wieder an die
Türe des Wirtshauses – dort werd' ich Euch erwarten.«
»Und so lange –«
»Bleibt Ihr hier auf dieser Stelle
stehen. Versprecht mir,
daß Ihr keinen Schritt zur Rechten oder zur Linken gehen
wollt, bis die Glocke zwölf ausgeschlagen hat.«
»Ich verspreche es, Gertrud – aber
dann –«
»Dann kommt,« sagte das
Mädchen, reichte ihm die Hand zum
Abschied und wollte fort.
»Gertrud!« rief Arnold mit
bittenden, schmerzlichem Tone.
Gertrud blieb einen Augenblick wie
zögernd stehen, dann
plötzlich wandte sie sich gegen ihn um, warf ihre Arme um
seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des
schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein
Moment, in der nächsten Sekunde hatte sie sich losgerissen und
floh dem Dorfe zu, und Arnold blieb bestürzt über ihr
wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der
Stelle stehen, wo sie ihn verlassen.
Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter
in den wenigen Stunden
verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der
Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt, und einzelne
große Regentropfen verrieten ein nahendes Gewitter.
Durch die dunkle Nacht glänzten hell die
Lichter aus dem
Wirtshause heraus, und wie der Wind dort herüber sauste,
konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den
lärmenden Klang der Instrumente hören – aber nicht
lange. Nur wenige Minuten hatte er auf seiner Stelle gestanden, da
hob die alte Kirchenturmglocke zum schlagen aus – in demselben
Moment verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm
übertäubt, der so arg über den Hang tobte, daß
Arnold sich zum Boden niederbiegen mußte, um nicht das
Gleichgewicht zu verlieren.
Vor sich auf der Erde fühlte er da das
Paket, das Gertrud aus
dem Hause geholt, seinen eigenen Tornister und seine Mappe, und
erschreckt richtete er sich wieder empor. Die Uhr hatte
ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber, aber nirgends im
Dorfe entdeckte er mehr ein Licht. Die Hunde die kurz vorher
gebellt und geheult, waren still, und dichter, feuchter Nebel quoll
aus dem Grunde herauf.
»Die Zeit ist um,« murmelte
Arnold vor sich hin, indem er seinen
Tornister auf den Rücken warf, »und ich muß Gertrud
noch
einmal sehen, denn so kann ich nicht von ihr scheiden. Der Tanz ist
aus – die Tänzer werden jetzt zu Hause gehen, und wenn mich
der Schulze auch nicht über Nacht behalten will, bleib' ich im
Wirtshause – in der Dunkelheit fänd' ich überdies nicht
meinen Weg durch den Wald.«
Vorsichtig stieg er den leisen Abhang wieder
hinunter, den er mit
Gertrud heraufgekommen, dort den breiten und weißen Weg zu
treffen, der in das Dorf hineinführte, aber umsonst tappte er
unten in den Büschen darnach herum. Der Grund war weich und
sumpfig, mit seinen dünnen Stiefeln sank er bis tief über
die Knöchel ein, und dichtes Erlengebüsch schoß
überall dort empor, wo er den festen Weg vermutet hatte.
Gekreuzt konnte er ihn in der Dunkelheit auch nicht haben, er
mußte ihn fühlen, wenn er darauf trat, und
außerdem wußte er, daß die Ringmauer des Dorfes
querüber lief – diese konnte er nicht verfehlen. Aber umsonst
suchte er mit einer ängstlichen Hast darnach: der Boden wurde
weicher und sumpfiger, je weiter er darin vordrang, das
Gestrüpp dichter und überall von Dornen durchzogen, die
seine Kleider zerrissen und seine Hände blutig ritzten.
War er rechts oder links abgekommen und an
dem Dorfe vorbei? Er
fürchtete, sich noch weiter zu verirren, und blieb auf einer
ziemlich trockenen Stelle, dort zu erwarten, bis die alte Glocke
eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an, kein Hund
bellte, kein menschlicher Laut tönte zu ihm herüber, und
mit Mühe und Not, durch und durch naß und vor Frost
zitternd, arbeitete er sich wieder zu dem höher gelegenen
Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud verlassen. Wohl
versuchte er von hier aus noch ein paarmal in das Dickicht
einzudringen und das Dorf zu finden, aber vergebens; zum Tode
erschöpft, von einem eigentümlichen Grausen erfaßt,
mied er zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte
einen schützenden Baum, die Nacht dort zu verbringen.
Und wie langsam zogen die Stunden an ihm
vorüber! Denn
zitternd vor Frost war er nicht imstande, der langen Nacht auch nur
eine Sekunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er dabei in
die Dunkelheit hinein, denn immer aufs neue glaubte er den rauhen
Schlag der Glocke zu vernehmen, um immer aufs neue sich
getäuscht zu sehen.
Endlich dämmerte der erste lichte Schein
aus fernem Osten; die
Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war wieder rein und
sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in
den dunklen Bäumen.
Und breiter wurde der goldene
Himmelsgürtel und lichter –
schon konnte er deutlich um sich her die Wipfel der Bäume
erkennen – aber vergebens suchte sein Blick den alten braunen
Kirchturm und die wettergrauen Dächer. Nichts als ein wildes
Erlengestrüpp, mit einzelnen verkrüppelten Weiden
dazwischen, dehnte sich vor ihm aus. Kein Weg war zu erkennen, der
links oder rechts abführte, kein Zeichen einer menschlichen
Wohnung in der Nähe.
Heller und heller brach der Tag an; die
ersten Sonnenstrahlen
fielen auf die weite, grüne, vor ihm ausgebreitete
Fläche, und Arnold, nicht imstande sich dieses Rätzel zu
erklären, wanderte ein ganzes Stück den Grund
zurück. Er mußte sich in der Nacht, während er den
Ort suchte, ohne daß er es wußte, verirrt und weiter
davon entfernt haben, und war jetzt fest entschlossen ihn wieder
aufzufinden.
Endlich erreichte er den Stein, an dem er
Gertrud gezeichnet; den
Platz hätte er unter tausenden wieder erkannt, denn der alte
Fliederbusch mit seinen starren Ästen bezeichnete ihn zu
genau. Er wußte jetzt genau, woher er gekommen war, und wo
Germelshausen liegen mußte, und schritt rasch das Tal
zurück, genau dieselbe Richtung, beibehaltend, der er gestern
mit Gertrud gefolgt war. Dort erkannte er auch die Biegung des
Hanges, über dem der düstere Höhenrauch gelegen; nur
das Erlengebüsch schied ihn noch von den ersten Häusern.
Jetzt hatte er es erreicht – drängte sich hindurch und –
befand sich wieder in dem nämlichen sumpfigen Moraste, in dem
er in der letzten Nacht herumgewatet.
Vollständig ratlos und seinen eigenen
Sinne nicht trauend,
wollte er die Passage hier erzwingen, aber das schmutzige
Sumpfwasser zwang ihn endlich, das trockene Land wieder zu suchen,
und vergebens wanderte er dort jetzt auf und ab. Das Dorf war und
blieb verschwunden.
Mit diesen unnützen Versuchen mochten
mehrere Stunden vergangen
sein, und die müden Glieder versagten ihm zuletzt den
Dienst. Er konnte nicht weiter und mußte sich erst ausruhen;
was half ihm auch das nutzlose Suchen? von dem ersten Dorfe, das er
erreichte, konnte er leicht einen Führer nach Germelshausen
bekommen und dann den Weg nicht wieder verfehlen.
Todesmatt warf er sich unter einen Baum – und
wie war sein bester
Anzug zugerichtet! – Aber das kümmerte ihn jetzt nicht; seine
Mappe nahm er vor und aus der Mappe Gertruds Bild, und mit bitterem
Schmerz hing sein Auge an den lieben, lieben Zügen des
Mädchens, das, wie er zu seinem Schrecken fand, schon einen zu
festen Halt an ihn gewonnen hatte.
Da hörte er hinter sich das Laub
rascheln – ein Hund schlug
an, und als er rasch emporsprang, stand ein alter Jäger nicht
weit von ihm und betrachtete sich neugierig die wunderliche, so
anständig gekleidete und so verwildert aussehende Gestalt.
»Grüß' Gott!« rief
Arnold, seelensfroh, einem Menschen
hier zu begegnen, indem er das Blatt rasch wieder in die Mappe
schob. »Sie kommen mir hier wie gerufen, Herr Förster, denn
ich glaube, ich habe mich verirrt.«
»Hm,« sagte der Alte, »wenn
Sie hier die ganze Nacht im Busche
gelegen haben – und kaum eine halbe Stunde nach Dillstedt
hinüber zu einem guten Wirtshause – so glaub' ich das auch.
Donnerwetter, wie sehen sie aus, gerade als ob Sie eben Hals
über Kopf aus Dornen und Sumpf kämen!«
»Sie sind hier im Walde genau
bekannt?« sagte da Arnold, der vor
allen Dingen wissen wollte, wo er sich eigentlich befand.
»Ich sollt' es denken,« lachte
der Jäger, indem er Feuer
schlug und seine Pfeife wieder in Brand brachte.
»Wie heiß das nächste
Dorf?«
»Dillstedt – gerad' dort hinüber.
Wenn Sie da drüben auf
die kleine Anhöhe kommen, können Sie es leicht unter sich
liegen sehen.«
»Und wie weit hab' ich von hier nach
Germelshausen?«
»Wohin?« rief der Jäger und
nahm erschreckt seine Pfeife aus
dem Munde.
»Nach Germelshausen.«
»Gott sei mir gnädig!» sagte
da der Alte, während er
einen scheuen Blick umherwarf – »den Wald kenn' ich gut genug;
wie
viel Klaftern tief im Erdboden drinnen aber das verwünschte
Dorf liegt, das weiß nur Gott – und – geht unsereinen auch
nichts an.«
»Das verwünschte Dorf?« rief
Arnold erstaunt.
»Germelshausen – ja« – sagte der
Jäger. »Gleich da drin im
Sumpfe, wo die alten Weiden und Erlen stehen, soll es vor so und so
vielen hundert Jahren gelegen haben, nachher ist's weggesunken –
niemand weiß, warum und wohin, und die Sage geht, daß
es alle hundert Jahre an einem bestimmten Tage wieder ans Lichte
gehoben würde – möchte aber keinem Christenmenschen
wünschen, daß er zufällig dazu käme. – Aber
zum Wetter noch einmal, das Nachtlager im Busche scheint Ihnen
nicht gut zu bekommen. Sie sehen käseweiß aus. Da –
nehmen Sie einmal einen Schluck aus der Flasche hier, der wird
Ihnen gut tun – nur ordentlich!«
»Ich danke.«
»Ach was, das war nicht halb genug –
einen ordentlichen, dreimal
geknoteten Schluck – so – das ist der echte Stoff, und nun machen
Sie, daß Sie hinüber ins Wirtshaus und in ein warmes
Bett kommen.«
»Nach Dillstedt?«
»Nun ja, natürlich – näher
haben wir keines.«
»Und Germelshausen?«
»Tun Sie mir den Gefallen und nennen
Sie den Ort nicht wieder hier,
gerade an der Stelle wo wir stehen. Lassen wir die Toten ruhen, und
besonders solche, die überhaupt keine Ruhe haben und immer
wieder einmal unversehens zwischen uns auftauchen!«
»Aber gestern hat das Dorf noch hier
gestanden,« rief Arnold,
seiner Sinne kaum mehr mächtig; – »ich war darinnen – ich
habe darin gegessen, getrunken und getanzt.«
Der Jäger betrachtete sich die Gestalt
des jungen Mannes ruhig
von oben bis unten, dann sagte er lächelnd:
»Aber es hieß anders, nicht wahr?
– wahrscheinlich kommen
Sie gerade von Dillstedt herüber, dort war gestern abend Tanz,
und das starke Bier, das der Wirt jetzt braut, kann nicht ein jeder
vertragen.«
Arnold öffnete, statt aller Antwort,
seine Mappe und nahm die
Zeichnung heraus, die er vom Kirchhof aus entworfen hatte.
»Kennen Sie das Dorf?«
»Nein!« sagte der Jäger
kopfschüttelnd – »solch ein
flacher Turm ist hier in der ganzen Gegend nicht.«
»Das ist Germelshausen,« rief
Arnold – »und tragen sich so die
Bauernmädchen in der Nachbarschaft, wie das Mädchen
hier?«
»Hm, – nein! was ist denn das für
ein wunderlicher
Leichenzug, den Ihr da darauf habt?«
Arnold antwortete ihm nicht; er schob die
Blätter wieder in
seine Mappe zurück, und ein eigenes, wehes Gefühl
durchbebte ihn.
»Den Weg nach Dillstedt können Sie
nicht verfehlen,« sagte der
Jäger gutmutig, denn ein dunkler Verdacht stieg jetzt in ihm
auf, daß es im Kopfe des Fremden nicht so ganz richtig sein
möchte, – »wenn Sie es aber wünschen, will ich Sie
begleiten, bis wir den Ort liegen sehen; ich gehe mir so nicht viel
aus dem Wege.«
»Ich danke Ihnen,« wehrte aber
Arnold ab. »Dort hinüber finde
ich mich schon zurecht. Also alle hundert Jahre nur soll das Dorf
nach oben kommen?«
»So erzählen die Leute,«
meinte der Jäger – »wer
weiß aber, ob's wahr ist.«
Arnold hatte seinen Tornister wieder
aufgenommen.
»Grüß' Gott!« sagte
er, dem Jäger die Hand
entgegenstreckend.
»Schönen Dank,« erwiderte
der Forstmann – »wo geht Ihr jetzt
hin?«
»Nach Dillstedt.«
»Das ist recht – dort über den
Hang kommt Ihr auch wieder auf
den breiten Fahrweg.«
Arnold wandte sich ab und schritt langsam
seine Bahn entlang. Erst
auf dem Hange oben, von dem aus er den ganzen Grund übersehen
konnte, blieb er noch einmal stehen und schaute zurück.
»Leb' wohl, Gertrud!« murmelte er
leise, und als er über den
Hang hinüberschritt, drängten sich die großen,
hellen Tränen aus den Augen.