PUP bei Non Volio: Ferne Städte -
Gedankliche Orte: Germelshausen
Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/gerstaec/germelsh/germels3.htm
Teil 3
»Und warum nicht?«
»Darf er, Vater?« frug Gertrud.
»Wenn er nicht bei uns bleibt,« lachte
der Schulze, »hab' ich
nichts dagegen – aber dahinten fehlt noch etwas.«
»Was?«
»Der Leichenzug von vorhin. – Malt den mit
auf das Blatt, und Ihr
mögt das Bild mitnehmen.«
»Aber der Leichenzug zu Gertrud?«
»Da ist noch Platz genug,« sagte
hartnäckig der Schulze, »der
muß mit drauf sein, sonst leid' ich nicht, daß Ihr
meines Mädels Bild so ganz allein mit fortnehmt. In so ernster
Gesellschaft kann aber niemand etwas Übles davon denken.«
Arnold schüttelte über den wunderlichen
Vorschlag, dem
hübschen Mädchen einen Leichenzug als Ehrenwache
mitzugeben, lachend den Kopf. Der Alte schien aber einmal die fixe
Idee zu haben, und um ihn zufrieden zu stellen, tat er ihm den
Willen. Später konnte er die traurige Beigabe schon leicht
wieder entfernen.
Mit geübter Hand hatte er auch die eben
vorbeigezogenen
Gestalten, wenn auch nur aus der Erinnerung, auf das Papier
gebracht, und die ganze Familie drängte sich dabei um ihn her
und sah mit offenbarem Staunen die rasche Ausführung der
Zeichnung.
»Hab ich's so recht gemacht?« rief
Arnold endlich, als er von
seinem Stuhle aufsprang und das Bild in Armeslänge von sich
hielt.
»Vortrefflich!« nickte der Schulze, –
»hätt's nimmer gedacht,
daß Ihr's so schnell fertig brächtet. Jetzt mag's sein,
und nun geht mit dem Mädel hinaus und seht Euch das Dorf an –
möchtet es doch sobald nicht wieder zu sehen bekommen. Bis um
fünf Uhr seid aber fein wieder da – wir feiern ein Fest
heint, und da müßt Ihr dabei sein!«
Arnold selber wurde es in der dumpfigen Stube, den
Wein im Kopfe,
eng und beklemmt zu Mute, und er sehnte sich ins Freie, und wenige
Minuten später schritt er an der schönen Gertrud Seite
die Straße entlang, die durch das Dorf führte.
Jetzt lag auch der Weg nicht mehr so still da wie
vorhin; die
Kinder spielten auf der Straße, die Alten saßen hie und
da vor ihren Türen und sahen ihnen zu, und der ganze Ort mit
seinen alten, wunderlichen Gebäuden hätte sicherlich
sogar ein freundliches Ansehen gehabt, wäre die Sonne nur im
Stande gewesen, durch den dichten, bräunlichen Rauch zu
dringen, der wie eine Wolke über den Dächern lag.
»Ist hier ein Moor- oder Waldbrand in der
Nähe?« frug er das
Mädchen; »derselbe Rauch liegt über keinen anderen
Dorfe
und kann nicht von den Schornsteinen herrühren.«
»Es ist Erdrauch,« sagte ruhig Gertrud
– »aber habt Ihr nie von
Germelshausen gehört?«
»Nie.«
»Das ist sonderbar, und das Dorf ist doch
schon so alt – so alt.«
»Die Häuser sehen wenigstens darnach
aus, und auch die Leute
haben alle ein so wunderliches Benehmen, und eure Sprache klingt so
ganz anders, wie in den Nachbarorten. Ihr kommt wohl wenig hinaus
aus eurem Orte?«
»Wenig,« sagte Gertrud einsilbig.
»Und keine einzige Schwalbe ist mehr da? –
Die können doch
noch nicht fortgezogen sein?«
»Schon lange« – antwortete
eintönig das Mädchen; – »in
Germelshausen baut sich keine mehr ihr Nest. – Sie können
vielleicht den Erdrauch nicht vertragen.
»Aber den habt ihr nicht immer?«
»Immer.«
»Dann ist der auch schuld daran, daß
eure Obstbäume
keine Früchte tragen, und noch in Marisfelde mußten sie
dieses Jahr die Äste stützen, so reich gesegnet ist das
Jahr.«
Gertrud erwiderte kein Wort darauf und wanderte
schweigend an
seiner Seite, immer im Dorfe hin, bis sie das äußerste
Ende desselben erreichten. Unterwegs nickte sie nur manchmal einem
Kinde freundlich zu oder sprach mit einem der jungen Mädchen
– vielleicht über den heutigen Tanz und Ballstaat – ein paar
leise Worte. Und die Mädchen sahen dabei den jungen Maler mit
recht mitleidsvollen Blicken an, daß es diesem, er
wußte selber nicht recht warum, ganz warm und weh ums Herz
wurde – aber er getraute sich nicht, Gertrud deshalb zu fragen.
Jetzt endlich hatten sie die äußersten
Häuser
erreicht, und so lebendig es im Dorfe selber auch gewesen, so still
und einsam, ja so totenähnlich wurde es hier. Die Gärten
sahen aus als ob sie seit langen, langen Jahren nicht betreten
wären; in den Wegen wuchs Gras, und merkwürdig schien es
besonders dem jungen Fremden, daß kein einziger Obstbaum auch
nur eine Frucht trug.
Da begegneten ihnen Menschen, die von
draußen hereinkamen,
und Arnold erkannte augenblicklich den rückkehrenden
Leichenzug. Die Leute zogen still an ihnen vorüber wieder in
das Dorf hinein, und fast unwillkürlich lenkten sich beider
Schritte dem Friedhof zu.
Arnold suchte jetzt seine Begleiterin, die ihm gar
so ernst vorkam,
aufzuheitern, erzählte ihr von anderen Orten, wo er gewesen,
und wie es draußen in der Welt aussehe. Sie hatte noch nie
eine Eisenbahn gesehen, ja nie davon gehört, und horchte
aufmerksam und erstaunt seiner Erklärung. Auch von den
Telegraphen hatte sie keine Ahnung, eben so wenig von all den
neueren Erfindungen, und der junge Maler begriff nicht, wie es
möglich sei, das noch Menschen in Deutschland so abgeschieden,
so förmlich getrennt von der übrigen Welt und außer
der geringsten Verbindung mit ihr leben konnten.
In diesen Gesprächen erreichten sie den
Gottesacker, und hier
fielen dem jungen Fremden gleich die altertümlichen Steine und
Denkmale auf, so einfach sie auch im ganzen waren.
»Das ist ein alter, alter Stein,«
sagte er, als er sich zu dem
nächsten niederbog und mit Mühe die Schnörkelschrift
desselben entziffert hatte, »Anna Maria Berthold, geborene
Stieglitz, geboren am 1sten Dcbr. 1188 – gestorben den 2ten
Dezember 1224 –«
»Das ist meine Mutter,« sagte Gertrud
ernst, und ein paar
große, helle Tränen drängten sich in ihr Auge und
fielen langsam auf ihr Mieder nieder.
»Deine Mutter, mein gutes Kind?« sagte
Arnold erstaunt, »deine
Ur-Ur-Elternmutter, ja, die konnte es gewesen sein.«
»Nein,« sagte Gertrud, »meine
rechte Mutter – der Vater hat
nachher wieder gefreit, und die zu Haus ist meine Stiefmutter.«
»Aber steht da nicht gestorben 1224 ?«
»Was kümmert mich das Jahr,«
sagte Gertrud traurig – »es tut
gar weh, wenn man so von der Mutter getrennt wird, und doch« –
setzte sie leise und recht schmerzlich hinzu – »war es vielleicht
gut – recht gut, daß sie vorher zu Gott eingehen durfte.«
Arnold bog sich kopfschüttelnd über den
Stein, die
Inschrift genauer zu erforschen, ob die erste 2 in der Jahreszahl
vielleicht eine 8 sei, denn die altertümliche Schrift machte
das nicht unmöglich; aber die andere 2 glich der ersten auf
ein Haar und 1884 schrieben sie noch lange nicht. Vielleicht hatte
sich der Steinmetz geirrt, und das Mädchen war so in das
Andenken an die Verstorbene vertieft, daß er sie nicht weiter
durch vielleicht lästige Fragen stören mochte. Er
ließ sich deshalb bei dem Steine, an dem sie niedergesunken
war und leise betete, um einige andere Denkmäler zu
untersuchen; aber alle ohne Ausnahmen trugen Jahreszahlen viele
hundert Jahre zurück, selbst bis 930, ja 900 n. Chr. G., und
kein neuerer Stein ließ sich auffinden, und doch wurden die
Toten selbst jetzt noch hier beigesetzt, wie das letzte, ganz
frische Grab bezeugte.
Von der niederen Kirchhofmauer aus hatte man aber
auch einen
trefflichen Überblick über das alte Dorf, und Arnold
benutzte rasch die Gelegenheit, eine Skizze davon zu entwerfen.
Aber auch über diesem Platz lag der wunderliche
Höhenrauch, und weiter dem Walde zu konnte er doch die Sonne
hell und klar auf die Berghänge sehen.
Da schlug im Dorfe wieder die alte, zersprungene
Glocke an, und
Gertrud, sich rasch emporrichtend und die Tränen aus den Augen
schüttelnd, winkte freundlich dem jungen Manne, ihr zu folgen.
Arnold war rasch an ihrer Seite.
»Jetzt dürfen wir nicht mehr
trauern,« sagte sie
lächelnd, »die Kirche läutet aus, und nun geht es zu
Tanze. Ihr habt bis jetzt wohl geglaubt, daß die
Germelshauser lauter Kopfhänger wären; heut abend sollt
Ihr das Gegenteil gewahr werden.«
»Aber da drüben ist doch die
Kirchentüre,« sagte Arnold,
»und ich sehe niemanden herauskommen?«
»Das ist sehr natürlich,« lachte
das Mädchen, »weil
niemand hineingeht, der Pfarrer selber nicht einmal. Nur der alte
Sakristan gönnt sich keine Ruhe und läutet die Kirche aus
und ein.«
»Und keins von euch geht in die
Kirche?«
»Nein, – weder zur Messe – noch
Beichte,« sagte das Mädchen
ruhig, »wir liegen in einem Streite mit dem Papste, der bei den
Welschen wohnt, und der will es nicht leiden, bis wir ihm wieder
gehorchen.«
»Aber davon hab' ich im Leben nichts
gehört.«
»Ja, ist auch schon lange her,« sagte
das Mädchen leicht hin,
– »seht Ihr, da kommt der Sakristan ganz allein aus der Kirche
und
schließt die Tür zu; der geht auch nicht abends ins
Wirtshaus, sondern sitzt still und allein daheim.«
»Und der Pfarrer kommt?«
»Das sollt' ich meinen – und ist der
lustigste von allen. Er nimmt
sich's nicht zu Herzen.«
»Und weshalb ist das alles geschehen?«
sagte Arnold, der sich fast
weniger über die Tatsachen, als über des Mädchens
Unbefangenheit wunderte.
»Das ist eine lange Geschichte,«
meinte aber Gertrud, »und der
Pfarrer hat das alles in ein großes, dickes Buch
aufgeschrieben. Wenn's Euch Spaß macht und Ihr lateinisch
versteht, mögt Ihr's darin lesen. Aber« – setzte sie warnend
hinzu – »sprecht nicht davon, wenn mein Vater dabei ist, denn er
hat's nicht gern. Seht Ihr – da kommen die Burschen und
Mädchen schon aus den Häusern, jetzt muß ich
machen, daß ich heim komme und mich auch anziehe, denn ich
möchte nicht die Letzte sein.«
»Und den ersten Tanz, Gertrud? –«
»Tanze ich mit Euch, Ihr habt mein
Versprechen.«
Rasch schritten die beiden in das Dorf
zurück, wo jetzt aber
ein ganz anderes Leben herrschte, als am Morgen. Überall
standen lachende Gruppen von jungen Leuten; die Mädchen waren
zu der Festlichkeit geschmückt und die Burschen ebenfalls in
ihrem besten Staate, und an dem Wirtshause, an dem sie
vorbeigingen, hingen Blatt-Girlanden von einem Fenster zum anderen
und zogen über der Türe einen weiten Triumphbogen.
Arnold mochte sich, da er alles aufs beste
herausgeputzt sah, nicht
in seinen Reisekleidern zwischen die Festtägler mischen,
schnallte deshalb in des Schulzen Hause seinen Tornister auf, nahm
seinen guten Anzug heraus und war eben mit seiner Toilette fertig,
als Gertrud an die Türe klopfte und ihn abrief. Und wie
wunderbar schön sah das Mädchen jetzt in ihrem einfachen
und doch so reichen Schmucke aus, und wie herzlich bat sie ihn, sie
zu begleiten, da Vater und Mutter erst später nachfolgen
würden!
Die Sehnsucht nach ihrem Heinrich kann ihr das
Herz nicht besonders
abdrücken, dachte der junge Mann freilich, als er ihren Arm in
den seinen zog und mit ihr durch die jetzt einbrechende
Dämmerung dem Tanzsaal zuschritt; aber er hütete sich
wohl, einem derartigen Gedanken Worte zu geben, denn ein eigenes,
wunderliches Gefühl durchzuckte seine Brust, und sein Herz
klopfte ihm selber ungestüm, als er das der Jungfrau an seinem
Arme pochen fühlte.
»Und morgen muß ich wieder
fort,« seufzte er leise vor sich
hin. Ohne das er es selber wollte, waren aber die Worte zu dem Ohre
seiner Begleiterin gedrungen, und sie sagte lächelnd:
»Sorgt Euch nicht um das – wir bleiben
länger zusammen –
länger vielleicht als Euch lieb ist.«
»Und würdest du es gerne sehen,
Gertrud, wenn ich bei euch
bliebe?« frug Arnold, und er fühlte dabei, wie ihm das Blut
mit voller Gewalt in Stirn und Schläfe schoß.
»Gewiß,« sagte das junge
Mädchen unbefangen, »Ihr seid
gut und freundlich – mein Vater hat Euch auch gern, ich weiß
es, und – Heinrich ist doch nicht gekommen!« setzte sie leise und
wie zürnend hinzu.
»Und wenn er nun morgen käme?«
»Morgen?« sagte Gertrud und sah ihn
mit ihren großen, dunklen
Augen ernst an – »dazwischen liegt eine lange – lange Nacht.
Morgen! Ihr werdet morgen begreifen, was das Wort bedeutet. Aber
heint sprechen wir nicht davon,« brach sie kurz und freundlich
ab,
»heint ist das frohe Fest, auf das wir uns so lange, so sehr
lange
gefreut, und das wollen wir uns ja nicht durch trübe Gedanken
verkümmern. Und hier sind wir auch am Orte – die Burschen
werden nicht schlecht schauen, wenn ich mir einen neuen Tänzer
mitbringe.«
Arnold wollte ihr etwas darauf erwidern, aber
lärmende Musik,
die von innen heraustönte, übertäubte seine Worte.
Wunderliche Weisen spielten auch die Musikanten auf – er kannte
keine einzige davon und ward durch den Glanz der vielen Lichter,
die ihm entgegenfunkelten, im Anfang fast wie geblendet. Gertrud
führte ihn jedoch mitten in den Saal hinein, wo eine Menge
junger Bauernmädchen plaudernd zusammenstanden, dort erst
ließ sie ihn los, sich, bis der wirkliche Tanz begann, erst
ein wenig umzusehen und mit den übrigen Burschen bekannt zu
werden.