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Gedankliche Orte: Germelshausen
Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/gerstaec/germelsh/germelsh.htm
Friedrich Gerstäcker
Germelshausen
Im Herbst des Jahres 184– wanderte ein
junger, lebensfrischer
Bursch, den Tornister auf dem Rücken, den Stab in der Hand,
langsam und behaglich den breiten Fahrweg entlang, der von
Marisfeld hinauf nach Wichtelhausen führt.
Es war kein Handwerksbursch, der Arbeit suchend
von Ort zu Ort
ging; das sah man ihm auf den ersten Blick an, hätte ihn nicht
schon die kleine, sauber gefertigte Ledermappe verraten, die er auf
den Tornister geschnallt trug. Den Künstler konnte er
überhaupt nicht verleugnen. Der keck auf einer Seite sitzende,
schwarze, breiträndige Hut, das lange, blonde, gelockte Haar,
der weiche, noch ganz junge, aber ganz Bart – alles sprach
dafür, selbst der etwas abgetragene schwarze Sammetrock, der
ihm jedoch bei dem warmen Morgen ein wenig zu heiß werden
mochte. Er hatte ihn aufgeknöpft, und das weiße Hemd
darunter – denn er trug keine Weste – wurde um den Hals von einem
schwarzseidenen Tuche nur locker zusammengehalten.
Als er ein Viertelstündchen von Marisfeld
sein mochte,
läutete es dort zur Kirche, und er blieb stehen, stützte
sich auf seinen Stecken und lauschte aufmerksam den vollen
Glockentönen,
die gar wundersam zu ihm herüberschallten.
Das Läuten war lange vorüber, und noch
immer stand er
dort und blickte träumerisch hinaus auf die Bergeshänge.
Sein Geist war daheim bei den Seinen, in dem kleinen, freundlichen
Dorfe am Taunusgebirge, bei seiner Mutter, bei seinen Schwestern,
und es schien fast, als ob sich eine Träne in sein Auge
drängen wollte. Sein leichtes, fröhliches Herz aber
ließ die trüben und schwermütigen Gedanken nicht
aufkommen. Nur den Hut nahm er ab und grüßte mit einem
herzlichen Lächeln der Richtung zu, in der er die Heimat
wußte, und dann fester seinen derben Stock fassend, schritt
er munter die Straße entlang, der begonnenen Bahn folgend.
Die Sonne brannte indessen ziemlich warm auf den
breiten,
eintönigen Fahrweg nieder, auf dem der Staub in dicker Kruste
lag, und unser Wanderer hatte sich schon eine Zeitlang nach rechts
und links umgeschaut, ob er nirgend einen bequemeren Fußpfad
entdecken könne. Rechts zweigte allerdings einmal ein Weg ab,
der ihm aber keine Besserung versprach und auch zu weit aus seiner
Richtung führte; er behielt also den alten noch eine Zeitlang
bei, bis er endlich an ein klares Bergwasser kam, an dem er die
Trümmer einer alten, steinernen Brücke erkennen konnte.
Drüben hin lief ein Rasenweg, der in den Grund
hineinführte; doch mit keinem bestimmten Ziel vor sich, da er
ja nur dem schönen Werratale zu zog, seine Studienmappe zu
bereichern, sprang er auf einzelnen, großen Steinen trockenen
Fußes über den Bach zur kurz gemähten Wiese
drüben und schritt hier, auf dem elastischen Rasen und im
Schatten dichter Erlenbüsche, rasch und sehr zufrieden mit
seinem Tausche vorwärts.
»Jetzt hab' ich den Vorteil,« lachte
er dabei vor sich hin,
»daß ich gar nicht weiß, wohin ich komme. Hier steht
kein langweiliger Wegweiser, der einem immer schon Stunden vorher
sagt, wie der nächste Ort heißt, und dann jedesmal mit
der Entfernung unrecht hat. Wie die Leute hier nur ihre Stunden
messen, möchte ich wissen! Merkwürdig still ist's aber
hier im Grunde, – freilich, am Sonntage haben die Bauern
draußen nichts zu tun, und wenn sie die ganze Woche hinter
ihrem Pfluge oder neben dem Wagen herlaufen müssen, halten sie
am Sonntag nicht viel vom Spazierengehen, schlafen Morgens erst in
der Kirche tüchtig aus und strecken die Beinen dann nach dem
Mittagsessen unter den Wirtstisch. – Wirtstisch – hm – ein Glas
Bier wäre jetzt bei der Hitze gar nicht so übel – aber
bis ich das bekommen kann löscht auch die klare Flut hier den
Durst.« – Und damit warf er Tornister und Hut ab, stieg zum
Wasser
nieder und trank nach Herzenslust.
Dadurch etwas abgekühlt, fiel sein Blick auf
ein alten,
wunderlich verwachsenen Weidenbaum, den er rasch und mit
geübter Hand skizzierte, und jetzt vollständig erfrischt
und ausgeruht, nahm er seinen Tornister wieder auf und setzte
seinen Weg, unbekümmert wohin er ihn führte, fort.
Eine Stunde mochte er noch so gewandert sein, hier
ein
Felsstück, dort ein eigentümliches Erlengebüsch, da
wieder einen knorrigen Eichenast in seine Mappe sammelnd; die Sonne
war dabei höher und höher gestiegen, und er nahm sich
eben vor, nun rüstig auszuschreiten, um wenigstens im
nächsten Dorfe das Mittagsessen nicht zu versäumen, als
er vor sich im Grunde, dicht am Bache und an einem alten Steine,
auf dem früher vielleicht einmal ein Heiligenbild gestanden,
eine Bäuerin sitzen sah, die den Weg, den er kam,
herabschaute.
Von Erlen gedeckt, hatte er sie früher sehen
können, als
sie ihn; dem Ufer des Baches aber folgend, trat er kaum über
das Gebüsch hinaus, das ihn bis dahin ihren Blicken entzogen
hatte, als sie aufsprang und mit einem Freudenschrei auf ihn
zuflog.
Arnold, wie der junge Maler hieß, blieb
überrascht
stehen und sah bald, daß es ein bildhübsches, kaum
siebzehnjähriges Mädchen war, das in einen ganz
eigentümliche, aber äußerst nette Bauerntracht
gekleidet, die Arme gegen ihn ausgestreckt, auf ihn zuflog. Arnold
wußte freilich, daß sie ihn jedenfalls für einen
andern hielt und dieses freudige Begegnen nicht ihm galt – das
Mädchen erkannte ihn auch kaum, als sie erschrocken stehen
blieb, erst blaß und dann über und über rot wurde
und endlich schüchtern und verlegen sagte:
»Nehmt's nicht ungütig, fremder Herr –
ich – ich glaubte –«
»Daß es dein Schatz wäre, mein
liebes Kind, nicht wahr?«
lachte der junge Bursch, »und jetzt bist du verdrießlich,
daß dir ein anderes, fremdes und gleichgültiges
Menschenbild in den Weg läuft? Sei nicht böse, daß
ich's nicht bin.«
»Ach wie könnt Ihr nur so reden,«
flüsterte die Magd
ängstlich – »wie dürft' ich böse sein – aber wenn
Ihr wüstet, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte!«
»Dann verdient er's aber auch nicht,
daß du noch länger
auf ihn wartest,« sagte Arnold, dem jetzt erst die wahrhaft
wunderbare Anmut des schlichten Bauernkindes auffiel. »Wär'
ich an seiner Stelle, du hättest nicht eine einzige Minute
vergebens meiner harren sollen.«
»Wie Ihr nur so wunderlich redet,«
sagte das Mädchen
verschämt, »wenn er hätt' kommen können, wär
er
gewiß schon da. Vielleicht ist er wohl krank oder – oder gar
– tot,« setzte sie langsam und recht aus vollem Herzen
aufseufzend
hinzu.
»Und hat er so lange nichts von sich
hören lassen?«
»Gar sehr, sehr lange nicht.«
»Dann ist er wohl weit von hier
daheim?«
»Weit? gewiß – schon eine recht lange
Strecke von da,« sagte
das Mädchen, »in Bischofsroda.«
»Bischofsroda?« rief Arnold, »da
hab' ich jetzt vier Wochen gehaust
und kenne jedes Kind im ganzen Dorfe. Wie heißt er?«
»Heinrich – Heinrich Vollgut,« sagte
das Mädchen
verschämt – »des Schulzen Sohn in Bischofsroda.«
»Hm,« meinte Arnold, »bei dem
Schulzen bin ich ein- und ausgegangen,
der aber heißt Bäuerling, soviel ich
weiß, und den Namen Vollgut hab' ich im ganzen Dorfe nicht
gehört.«
»Ihr werdet nicht alle Leut' dort
kennen,« meinte das Mädchen,
und durch den traurigen Zug, der über dem lieben Antlitze lag,
stahl sich doch ein leises, verschmitztes Lächeln, das ihr gar
so gut und noch viel besser wie die vorige Schwermut stand.
»Aber von Bischofsroda,« meinte der
junge Maler, »kann man
über die Berge recht gut in zwei Stunden, höchstens in
dreien, herüberkommen.«
»Und doch ist er nicht da,« sagte die
Maid, wieder mit einem
schweren Seufzer, »und doch hat er mir's so fest
versprochen.«
»Dann kommt er auch gewiß,«
versicherte Arnold treuherzig;
»denn wenn man dir einmal etwas versprochen hat, mußte man
ja
ein Herz von Stein haben, wenn man nicht Wort hielte – und das hat
dein Heinrich gewiß nicht.«
»Nein,« sagte die Maid treuherzig, –
»aber jetzt wart' ich doch
nicht länger auf ihn, denn zu Mittag muß ich daheim
sein, sonst schilt der Vater.«
»Und wo bist du daheim?«
»Dort gleich im Grunde drin – hört Ihr
die Glocke? – eben
wird der Gottesdienst ausgeläutet.«
Arnold horchte auf, und gar nicht weit entfernt
konnte er das
langsame Anschlagen einer Glocke hören; aber nicht voll und
tief tönte es zu ihm herüber, sondern scharf und
disharmonisch, und als er nach der Gegend dort hinschaute, war es
fast, als ob ein dichter Höhenrauch über jenem Teile des
Tales läge.
»Eure Glocke hat einen Sprung,« lachte
er, »die klingt bös.«
»Ja, ich weiß wohl,« erwiderte
gleichmütig das
Mädchen, »hübsch klingt sie nicht, und wir hätten
sie schon umgießen lassen, aber es fehlt immer an Geld und an
Zeit dazu, denn hier herum sind keine Glockengießer. Doch was
tut's; wir kennen sie einmal und wissen, was es bedeutet, wenn es
anschlägt – da verrichtet's auch die gesprungene.«
»Und wie heißt dein Dorf?«
»Germelshausen.«
»Und kann ich von dort nach Wichtelhausen
kommen?«
»Recht leicht – den Fußweg
hinüber ist's kaum ein
halbes Stündchen – vielleicht nicht einmal so weit, wenn Ihr
gut ausschreitet.«
»Dann geh' ich mit durch dein Dorf, Schatz,
und wenn ihr ein gutes
Wirtshaus im Dorfe habt, ess' ich dort auch zu Mittag.«
»Das Wirtshaus ist nur so gut,« sagte
das Mädchen seufzend,
indem sie einen Blick zurückwarf, ob der Erwartete denn noch
nicht käme.
»Und kann ein Wirtshaus je zu gut
sein?«
»Für den Bauer ja,« sagte das
Mädchen ernst, indem es
jetzt an seiner Seite langsam im Grunde hinschritt, »der hat auch
des Abends nach der Arbeit noch manches im Hause zu tun, was er
versäumt, wenn er bis spät in die Nacht im Wirtshause
sitzt.«
»Aber ich versäume heut' nichts
mehr.«
»Ja mit den Stadtherrn ist es etwas anderes
– die arbeiten doch
nichts und versäumen deshalb auch nicht viel; muß doch
der Bauer das Brot für sie verdienen.«
»Nun eigentlich doch nicht,« lachte
Arnold; – »bauen wohl, aber
verdienen müssen wir es selber, und manchmal sauer genug, denn
was der Bauer tut, läßt er sich auch gut bezahlen.«
»Aber Ihr arbeitet doch nichts?«
»Und warum nicht?«
»Eure Hände sehen nicht danach
aus.«
»Dann will ich dir gleich einmal beweisen,
wie und was ich arbeiten
kann,« lachte Arnold. »Setz' dich einmal da auf den flachen
Stein
unter den alten Fliederbusch –«
»Aber was soll ich dort?«
»Setz' dich nur hin,« rief der junge
Maler, der rasch seinen
Tornister abwarf und Mappe und Bleistift vornahm.
»Aber ich muß heim!«
»In fünf Minuten bin ich fertig – ich
möchte auch gern
eine Erinnerung an dich mitnehmen in die Welt, gegen die selbst
dein Heinrich nichts wird einzuwenden haben.«
»Eine Erinnerung an mich? – wie Ihr
gespaßig seid!«
»Ich will dein Bild mitnehmen.«
»Ihr seid ein Maler?«
»Ja.«
»Das wär schon gut – dann könntet
Ihr in Germelshausen
gleich die Bilder in der Kirche wieder einmal frisch anmalen, die
sehen so gar bös und mitgenommen aus.«
»Wie heißt du?« frug jetzt
Arnold, der indessen schon seine
Mappe geöffnet hatte und die lieblichen Züge des
Mädchens rasch skizzierte.
»Gertrud.«
»Und was ist dein Vater?«
»Der Schulze im Dorfe. – Wenn Ihr ein Maler
seid, dürft Ihr
auch nicht ins Wirtshaus gehn; da nehm' ich Euch gleich mit zu
Haus, und nach dem Essen könnt Ihr alles mit dem Vater
besprechen.«
»Über die Kirchenbilder?« lachte
Arnold.
»Ja gewiß,« sagte ernsthaft das
Mädchen, »und Ihr
müßt dann bei uns bleiben, recht lange Zeit bis –
wieder unser Tag kommt und die Bilder fertig sind.«
»Nun, davon sprechen wir nachher,
Gertrud,« sagte der junge Maler,
fleißig dabei seinen Bleistift handhabend, – »aber wird
dein
Heinrich nicht bös werden, wenn ich auch manchmal – oder
recht oft bei euch bin, und – recht viel mit dir plaudere?«
»Der Heinrich?« sagte das
Mädchen, »der kommt jetzt nicht
mehr.«
»Heut wohl nicht, aber dann vielleicht
morgen?«
»Nein,« sagte Gertrud vollkommmen
ruhig, »da er bis elf Uhr nicht
da war, bleibt er aus, bis einmal wieder unser Tag ist.«
»Euer Tag? was meist du damit?«
Das Mädchen sah ihn groß und ernst an,
aber sie
antwortete nicht auf seine Frage, und während ihr Blick nach
den hoch über ihnen hinziehenden Wolken schweifte, hastete er
mit einem eigenen Ausdrucke von Schmerz und Wehmut an ihnen.
Gertrud war in diesem Augenblick wirklich
engelschön, und
Arnold vergaß in dem Interesse, das er an der Vollendung des
Porträts nahm, alles andere. Es blieb ihm auch nicht mehr viel
Zeit. Das junge Mädchen stand plötzlich auf, und ein Tuch
über den Kopf werfend, sich vor den Sonnenstrahlen zu
schützen, sagte sie:
»Ich muß fort – der Tag ist so kurz,
und sie erwarten mich
daheim.«
Arnold hatte aber sein kleines Bild auch fertig,
und mit ein paar
kecken Strichen den Faltenwurf der Kleidung angebend, sagte er, ihr
das Bild entgegenhaltend:
»Hab' ich dich getroffen?«
»Da bin ich!« rief Gertrud rasch und
fast erschreckt.
»Nun wer denn sonst?« lachte Arnold.
»Und das Bild wollt Ihr behalten und mit
Euch nehmen?« frug das
Mädchen schüchtern, fast ängstlich.
»Gewiß will ich,« rief der junge
Mann, »und wenn ich dann
weit, weit von hier bin, noch oft und fleißig an dich
denken.«