Non Volio
Dossier: Literarische Reisen in Nordamerika
Bill Bryson - The Lost Continent
Reisen
bildet. Auch die Reise Bill Brysons
durch Nordamerika bildet. Sowohl ihn als auch den Leser. Dabei ist die
Ausgangsbasis außergewöhnlich genug. Nach der Schule, nach
dem College, zog es
den jungen Bill Bryson vor vielen Jahren nach Europa. Ende der 80er
Jahre kehrt
er heim nach Des Moines und stellt fest, dass Amerika anders geworden
ist. Und
dann tut er etwas, was viele von uns gern tun würden, aber nur
wenige
tatsächlich tun: Er schnappt sich Mamas Auto und fährt im
Herbst für drei
Monate zunächst durch den Osten der USA, und dann, nach der
Winterpause, für
drei Monate durch den Westen der USA. Zwei große Schleifen, die
sich in seiner
Heimatstadt Des Moines schneiden.
Travels in Small Town America nennt
er sein
Buch im Untertitel. Nach dem Lesen fällt die Undeutlichkeit dieses
Untertitels auf: Denn zunächst einmal sucht er Die Kleinstadt,
jene Small Town, die er
als Idealbild im Hinterkopf hat, als er losfährt. Ein Idealbild,
geschaffen aus den Erinnerungen an Reisen mit seinem Vater, im Auto, in
seiner Jugend. Doch er findet sie nicht.
Jenes Bild der amerikanischen Kleinstadt, das nicht nur wir
Kinobesucher
(s.u.), sondern eben auch Bill Bryson selbst nachhängt, existiert
nicht mehr.
Jenes Small Town America, das
er dann tatsächlich durchquert, stößt ihn ab.
So ist sein Buch letztlich eine Bestandsaufnahme des amerikanischen
Selbstverständnisses der Gegenwart (nun gut, Ende der 1980er
Jahre).
Überraschenderweise ist aber dieses Selbstverständnis dann
doch wieder über die
Small Town definiert. Denn dort, wo er vorbeikommt, schaut ihn "the
quintessential America" an, das eigentliche, das wahre Amerika,
jenseits
der Großstädte.
Aber wie
sieht nun dieses Amerika aus? Beginnen
wir mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs "community". Im Deutschen je
nach Zusammenhang Gemeinde oder Gemeinschaft, mit Anklängen von
Zusammengehörigkeit, bildet dieses Wort den Kern des Small Town-Mythos. Was
Bryson sucht, ist jene Kleinstadt, in der die Häuser weiß,
die Bäume grün, die
Parkbänke sauber, die Menschen freundlich und die
Arbeitsplätze sicher sind. Er
sucht eine Stadt, in der die Leute Barbecue vor dem Haus machen, unter
schattigen Bäumen spazieren gehen, und das Überfahren einer
roten Ampel (der
einzigen im Ort!) das schlimmste Verbrechen der letzten Jahre ist. Jene
Ideal-Kleinstadt gruppiert sich um Rathaus, Gericht, Bibliothek um
einen
zentralen Platz herum, wo die Spiele der Highschool-Football-Mannschaft
das
Ereignis an Wochenden sind.
All dies
kommt dem europäischen Kinogänger
merkwürdig bekannt vor: Pleasantville z.B.
ist so eine Stadt, oder die Stadt aus "Zurück
in die Zukunft" oder
auch Greenbo, Alabama aus Forrest
Gump. Auch in der Literatur erscheinen solche
Städte immer wieder: Hannibal z.B. aus Mark Twains "Tom Sawyer" oder
auch Ray Bradburys Green Town, Illinois aus "Dandelion
Wine" und "Something Wicked this
Way Comes".
Die
simple Tatsache, dass wir hier diese Stadt über ihr Auftauchen im
Kino definieren müssen, zeigt, dass sie eben nicht real ist.
Bryson muss dies schmerzlich erkennen. Seine Rundreise beginnt mit
einigen Erinnerungen an die Reisen mit seinem Vater und wandelt sich
dann immer mehr zu einem zynischen Abgesang auf das
kleinstädtische Amerika, dass kapituliert hat: Vor sich selbst,
vor den Fast-Food-Ketten, Tankstellen und Motels. Vor Shopping Malls,
die die Innenstädte ruinieren, wo es Orte gibt, die einfach keine
Innenstadt mehr haben, Orte, die keinen einzigen self-owned-store mehr haben,
sondern nur noch national chains.
Bryson brandmarkt die Orte, an denen der community spirit verschwunden
ist, mit ihm (oder vor ihm?) die Arbeitsplätze und der Sinn
für das Schöne. Das Small
Town America, dass er beschreibt, strahlt jene
Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit aus, die Mary Chapin Carpenter
in ihrem Song I
am a Town so schön besingt.
Ausnahmen gibt es
auch für Bill Bryson immer wieder. Aber jedes schöne
Städtchen wird, bevor es Schule machen könnte, sofort
mit dem nächsten "Pisskaff" kontrastiert. Anfangs ist der Effekt
noch beeindruckend. Nach etwa einhundert Seiten der insgesamt 340 nimmt
seine Schlagkraft jedoch ab und der Leser ermüdet. Am Ende, von
der Westküste zurück nach Des Moines, ermüdet auch der
Autor merklich und beeilt sich, sein Buch zu Ende zu bringen, ohne noch
mehr über Tankstellen und Hamburger-Bratereien zu maulen.
© Edgar
Lösel und non
volio 2004