von Gahan Wilson
Das Netz bietet erleichtert vieles, was es vorher auch schon gab. Man ging früher halt in die Bibliothek, suchte herum, fragte Dutzende von Leuten, um am Ende zu einem Ergebnis zu kommen. Das geht heute viel schneller. Vor allem trifft man viel schneller Leute, die eine uralte Ausgabe des National Lampoon vom November 1971 ihr eigen nennen und daraus Gahan Wilsons Science Fiction Horror Movie Pocket Computer ins Netz gestellt haben. Oder ihre Version stammt aus "Best SF: 1971", herausgegeben von Harry Harrison und Brian W. Aldiss (1972), wo diese Graphik unter der Rubrik "Essay" aufgenommen wurde. Wie dem auch sei, ich habe sie jedenfalls hier gefunden, nachdem ich diesem Link gefolgt war.
Erstaunlicherweise scheint dieses „Essay“ 1974 nochmals unter dem gleichen Titel, nochmals im National Lampoon, und dann nochmals in Aldiss' Best SF 1974 erschienen zu sein. Wieso wird es innerhalb von drei Jahren nochmal gedruckt? Hat dies doch etwas mit dem Fund unseres Mitarbeiters Jesionkiewicz zu tun? (siehe unten)
Was gibt es zu sehen? Wir erkennen ein
Flussdiagramm, in dem der Betrachter den Plot wohl der meisten
Science-Fiction-Filme wird nachvollziehen können. Als Startpunkt
erscheint dabei die Erde, wobei, wenn man genau hinschaut, ein
zweiter Startpunkt mit scientists gesetzt ist. Man folge den
Pfeilen, entscheide sich für einen Weg, und ein Plot für
einen SF-, Horror- oder Monster-Film ensteht vor den Augen des
Lesers. Die vom Autor damals beabsichtigte satirische Überzeichnung
- auch angesichts des Publikationsortes - bezieht sich dabei auf die
SF der 50er und 60er Jahre, besonders auf jene vom Kalten Krieg
geprägte Richtung der Invasionsgeschichte. Denn ganz besonders
eignet sich das Muster, dem Plot eben einer klassischen
Invasionsgeschichte zu folgen, allen voran deren Ur-Form in H.G.
Wells War of the Worlds.
Erstaunlich
eigentlich, dass sich in den über 30 Jahren nach seiner
Entstehung in der populären SF dann doch recht wenig getan hat.
Sonst wäre dieses Muster nicht immer noch so gültig und
relevant, wie es das ist. Der interessierte Leser und die
interessierte Leserin mögen sich den Spass machen, ihnen
bekannte Filme in diesem Muster wiederzufinden.
Bemerkenswert erscheint mir, dass ein Klassiker etwa wie Alien
(Ridley Scott, 1978) nicht in das Schema passt. Auch Planet der
Affen (Frank Schaffner, 1967, nach einem Roman von Pierre
Boulle) widersetzt sich der Einordnung in den Ablaufplan. Auf der
anderen Seite passen Independence Day, Mars Attacks, Armageddon
und Deep Impact, Godzilla und vor allem der unsägliche
Plan 9 from Outer Space, der schlechteste Film aller Zeiten,
sehr wohl in diesen Plan. Es drängt sich die Hypothese auf, ein
Science-Fiction-Film sei dann gut, interessant, überdenkenswert,
aussagekräftig, spannend und lohnend, wenn er nicht in Gahan
Wilsons Matrix hineinpasst.
Auf der anderen
Seite sollten wir fair bleiben: Kipling hatte einmal geschrieben, es
gebe im Grunde nur zwei Arten von Menschen, jene, die zu Hause
blieben und jene, die es nicht täten. Das ist zwar nicht falsch,
aber der Erkenntnisgewinn bleibt etwas unklar. In ganz ähnlicher
Weise hatte Leo Tolstoi geschrieben, es gebe nur zwei Arten von
Geschichten: "Der Held geht auf eine Reise" und "Ein
Fremder kommt in die Stadt". Auf diesem Niveau braucht man über
Literatur nicht mehr zu diskutieren. Ähnliches gilt für
Wilsons Flussdiagramm. Der Plot ist wichtig, aber Literatur,
spannende, gute Literatur wird aus einem Plot erst durch die Kunst
des Schreibens. Und die kann selbst aus einem Weg durch Wilsons
Diagramm noch eine spannende Geschichte machen.
© Matthias Bode @ non volio
Ergänzung 2010:
Gahan Wilsons
"Science Fiction Horror Movie Pocket Computer" hat es
offenbar geschafft auch die Annerkennung so einer
Science-Fiction-Größe wie Stanisław Lem zu gewinnen.
Eine ins Polnische übersetzte Version des Schemas findet man
unter dem Titel "Kieszonkowy komputer dreszczowców
science fiction" im Anhang von Lems "Fantastyka i
futurologia" (auf Deutsch erstmals 1977 erschienen unter dem
Titel "Phantastik und Futurologie"). Der in der Erstausgabe
von 1970 zwangsläufig noch nicht vorhandene "Komputer",
muss nach dem Erscheinen von Gahans Original im "National
Lampoon" von 1971 erst nachträglich in spätere
Auflagen integriert worden sein.
Die
Übernahme des fremden Schemas durch Lem ist sehr bemerkenswert,
da er sich mit zunehmenden Alter immer kritischer über das
Schaffenswerk seiner Kollegen äußerte und ihn auch
zunehmend Wut ergriff über die Oberflächlichkeit vor allem
us-amerikanischer Science-Fiction-Filme und Bücher und die in
ihnen renitent fortgesetzte Vergewaltigung von fundamentalsten
Naturgesetzen. Gerade in der "Phantastik" geht Lem sehr
streng mit den Arbeiten der meisten Autoren seines Fachs ins Gericht,
denen er fehlende intellektuelle Ambitionen vorwirft und kritisiert,
dass so eine Art von Science-Fiction keinen Beitrag dazu leistet,
damit Literatur Aspekte der Zukunft prognostiziert.
Gerade
deshalb wird wohl Gahan Wilsons humorvolles, aber nichtsdestotrotz
brutal den Schematismus der meisten Produktionen entlarvendes Schema
Lems Aufmerksamkeit gewonnen haben.
Bartłomiej
Jesionkiewicz, 2010.
(Am Fuß der Seite folgen noch einige Ergänzungen)
The Science Fiction Horror Movie Pocket Computer
von
Gahan Wilson
Dieses Flussdiagramm wird im Netz an vielen Stellen erwähnt, oft ohne die genaue Autoren- oder Quellenangabe. An einigen wenigen Stellen findet sich dabei diese Grafik, die ich hier als Zitat in meine Betrachtungen eingebaut habe. Es gibt diverse interaktive Online-Varianten dieses Modells. Die eine nennt sich The Science Fiction TV Show Synopsis Generator, eine andere Variante firmiert als SF Plot Generator. Beiden Varianten gemein ist die Tatsache, dass sie erst beim mehrmaligen Nachladen den Spass des Systems zeigen, da ein einmaliger Aufruf eben nur einen Weg durch den Plan erbringt.
Unterrichtsideen:
Wenn Sie Science Fiction in
der Oberstufe unterrichten, könnten Sie diesen Plan an den
Anfang stellen. Lassen Sie Ihre Schüler einen Weg bzw. eine
Geschichte auswählen und als short story zu Papier
bringen. Es ist schwieriger, als es aussieht.