Bruce Chatwin - In Patagonien

und: Wiedersehen mit Patagonien


Wir haben auch eine Bibliographie.

Ich fuhr über die Magellanstraße nach Feuerland. An der Nordküste der ersten Meerengen stand ein Leuchtturm, orangerot und weiß gestreift, hoch über einem Strand, der mit kristallhellen Kieselsteinen, lila Muscheln und zerbrochenen scharlachroten Krebsschalen übersät war. Am Wasserrand durchsuchten Austernfischer mit ihren langen Schnäbeln die rubinroten Algen nach Schalentieren. Die Küste Feuerlands war ein aschgrauer Streifen, kaum drei Kilometer entfernt. Vor einem Restaurant, einer Blechbude, stand eine Reihe von Lastwagen in Erwartung der Flut, die die beiden Fährschiffe für die Überfahrt wieder flottmachen würde. Drei alte Schotten standen in der Nähe. Sie hatten rosageäderte himmelblaue Auge, und ihre Zähne waren abgefault bis auf ein paar kleine bräunliche Stümpfe. Im Restaurant saß eine kräftige dralle Frau auf einer Bank und kämmte sich das Haar, während sie sich von ihrem Begleiter, einem Lkw-Fahrer, Mortadellascheiben auf die Zunge legen ließ.

Zu dieser Passage hatte Angelika Overath am 14. 12. 2001 in der Frankfurter Rundschau geschrieben: "Das waren neue Farben, das war ein neuer Ton, der süchtig machen konnte. Es war der scheinbar kalte Blick auf scheinbar nichtssagende Details. Auf einmal waren nie gesehene Einzelheiten die Hauptfiguren von verheißungsvollen Geschichten." Sie hat recht, und wir können uns da nur anschließen. Chatwins Bericht über seine Reisen in Patagonien enthält wenig von dem, was in einen Reisebericht normalerweise zu finden ist. Wir erfahren nicht, wie Chatwin unterwegs war, sein Text enthält massive Lücken in Chronologie und Geographie, aber dafür hat zeigt dieses Buch etwas anderes: eine unermessliche Lust am Fabulieren. Seine Geschichten über die Riesenfaultierhaut seiner Oma, über Butch Cassidy and the Sundance Kid, über die nach wie vor (nun, Ende der 1970er) Walisisch sprechenden Einwanderer und über die anarchistischen Revolutionäre driften einerseits weit ab von seiner Reise, sind aber so klar und kühl geschrieben, dass man nie den Faden verliert. Chatwin ist belesen genug, um in seine Beobachtungen zu Feuerland auch noch die lange und tragische Geschichte jenes Feuerländers einzubauen, den Charles Darwin kennengelernt hatte. Aber es bleibt eine lakonisch erzählte Geschichte. Und sie entschädigt für das Fehlen eines lückenlosen Itinerars. Chatwin hat auch noch einen Sinn für Humor. Und so finden wir folgende kleine Vignette, kurz und prägnant erzählt.

Am Tag zuvor war ich den Nonnen des Klosters Santa Maria Auxiliadora bei ihrem Sonntagsausflug zur Pinguinkolonie auf Cabo Virgenes begegnet. Ein ganzer Bus voller Jungfrauen. Elftausend Jungfrauen. Rund eine Million Pinguine. Schwarz und Weiß. Schwarz und Weiß. Schwarz und Weiß.

Man fühlt sich an einen Cartoon von Gary Larson erinnert oder an "Blues Brothers". Chatwin jedoch vermeidet platten Klamauk und zieht sich selbst an dieser Stelle zurück auf eine distanzierte Position des Beobachters. Es ist dieses Beobachen, dass das Buch ausmacht. Weit entfernt davon, ein Reiseführer zu sein, lädt uns Chatwin ein, mit seinen Augen zu schauen, seinen train of tought zu besteigen, um durch seine letztlich imaginierte Landschaft zu reisen. Das Patagonien, das Chatwin sah, ist sein eigenes gewesen. Beginnend im Wohnzimmer seiner Oma, konnte nur er so, zu diesem Zeitpunkt, mit dieser freundlichen Direktheit, den Menschen bis in die Wohnzimmer folgen. Dieser sein lakonischer Blick auf die Menschen ist es dann auch vor allem, der ihn von anderen Autoren des travel writing unterscheidet. Andere bereisen Länder, Chatwin trifft Menschen - und erzählt uns davon. Wenn wir In Patagonien zuklappen, haben wir viele schrullige und der Merkens würdige Menschen getroffen, aber das Land und seine Geographie sind nur gestreift worden. Landschaften? Berge? Küsten? Sonnenaufgänge? Wale vielleicht? Fehlanzeige. Stattdessen Typen und ihre Geschichten. So kommt es, dass auch die Bilder in diesem Buch so seltsam wirken. Die Fotos im Buch stammen von Chatwin selbst, und dem entsprechend sind sie seltsam kühl und distanziert: In Schwarz-Weiß gehalten, lakonische Stillleben, Häuser, Eisenbahnwaggons, kaum Landschaft, nichts, was man spektakulär nennen würde, nichts, was man in einem Reiseführer sehen würde.

Und so bürstet Chatwin alle Erwartungen gegen den Strich und hinterläßt doch ein Gefühl der Sehnsucht und der Ferne.

Patagonien, das Land am End' der Welt.

Wiedersehen mit Patagonien

Der Titel ist eine Farçe. Genauso wie der englische Originaltitel Patagonia Revisited verspricht er etwas, was das Buch nicht einhalten kann. Chatwin hatte im November 1979 zusammen mit dem bekannten Reiseschriftsteller Paul Theroux vor der Royal Geographical Society in London einen Vortrag über Patagonien gehalten. Jener hatte 1977 kurz vor In Patagonien sein Buch The Old Patagonia Express veröffentlicht, die Geschichte einer Eisenbahnreise von Boston nach Feuerland. Zusammen trugen sie nun ein "Best of" ihrer jeweiligen Bücher vor. Und das hier zu besprechende Buch ist nichts weiter als das - vermutlich überarbeitete - Manuskript, das in Großbritannien 1985, in Deutschland erst 1992, Jahre nach Chatwins Tod also, erschien. Um es kurz zu machen, so kurzm, wie das großzügig layoutete, aber dennoch nur rund 70 Seiten starke Büchlein: Es ist ein "Best of", die schönsten Geschichten aus In Patagonien gerafft erzählt, geschwätzig dargebracht. Eben ein Vortragsmanuskript. Und dennoch atmet es einiges des Geistes seines Vorgängers, der Reiz von In Patagonien schimmert auch noch durch diese Kurzfassung hindurch. Ein kleines geistreiches Aperçu...

Wer es antiquarisch noch findet, möge es kaufen, desgleichen jene, die das überschaubare Werk Chatwins vollständig sammeln wollen. Auch jenen, die keine Zeit für In Patagonien haben, sei wenigstens die Kurzfassung empfohlen. Alle anderen sollten sich an das längere Buch halten.


© Matthias Bode @ non volio 2004
















Eine kleine Bibliographie zu Bruce Chatwin

Diese Liste ist weder aktuell noch vollständig, sie ist sicher bloß ein Einstieg. Hier im Netz scheint es noch mehr zu geben. Versuchen Sie es auch mal hier.

Grundlegend sind:
Susannah Clapp: Mit Chatwin. Hanser 1998.
Nicholas Shakespeare: Bruce Chatwin. Kindler 2000.