Wirklich zeigte sich da unter meinen
Augen in Trümmern eine in den Abgrund versunkene Stadt mit
eingestürzten Dächern, zerfallenen Tempeln, verschobenen
Gewölben, zu Boden gestürzten Säulen, an denen man noch
die Verhältnisse toskanischer Architektur erkannte: weiter hinaus
Trümmer eines riesenhaften Aquäducts; hier in Schlamm
vergraben eine Akropole mit den Formen eines Parthenon; dort die Spuren
eines Quai, als hätte einst ein antiker Hafen am Gestade eines
verschwundenen Oceans den Kaufmannsschiffen und Kriegs-Triremen Schutz
gewährt; noch weiter hinaus lange Reihen zerfallener Mauern,
große verödete Straßen, ein ganzes versunkenes
Pompeji, welches der Kapitän Nemo vor meinen Augen wieder in's
Leben rief.
Wo war ich? Ich wollte es um jeden Preis wissen, ich
wollte reden, die kupferne Kugel, welche meinen Kopf einkerkerte,
abreißen.
Aber der Kapitän Nemo kam zu mir und hielt mich
ab.
Darauf hob er ein Stückchen kreideartigen
Gesteins auf, trat an einen schwarzen Basaltfelsen und schrieb darauf
nur das einzige Wort:
Atlantis.
Wie ein Blitzstrahl fuhr mir ein Gedanke durch den
Kopf! Die alte Atlantis Platon's, das einst versunkene Festland, dessen
Dasein eine Menge Gelehrten von Origenes an bis Humboldt geleugnet,
sein Verschwinden unter die Märchen gerechnet, von anderen nicht
minder großen Gelehrten, von Plinius bis Buffon anerkannt wurde,
- hier lag es vor meinen Augen mit den unverwerflichen Zeugnissen
seines Hinabsinkens! Es war also die versunkene Landschaft, welche
einst außerhalb Europa's, Asiens, Lybiens vorhanden war,
draußen vor den Säulen des Herkules, wo einst das
mächtige Volk der Atlanten lebte, mit welchem das alte
Griechenland seine ersten Kriege führte.
Plato selbst hat in seinen Schriften die
Großthaten dieser Heroenzeit aufgezeichnet. Sein Dialog
Timäus und Kritias ist so zu sagen unter Eingebung Solon's
geschrieben. Einst unterhielt sich Solon mit einigen weisen Greifen aus
Sais, einer bereits achthundert Jahre alten Stadt. Einer dieser Greise
erzählte die Geschichte einer anderen Stadt, die über tausend
Jahre älter war. Diese erste neunhundert Jahrhunderte alte
athenische Stadt war von den Atlanten angegriffen und zum Theil
zerstört worden. Diese Atlanten, sagte er, hatten ein
unermeßliches Festland inne, das größer war, als
Afrika und Asien zusammen, und eine Fläche vom zwölften bis
vierzigsten Grad nördlicher Breite deckte. Ihre Herrschaft
erstreckte sich selbst auf Aegypten. Sie wollten dieselbe auch
über Griechenland ausdehnen, mußten aber vor dem
unbezwinglichen Widerstand der Hellenen zurückweichen.
Jahrhunderte verflossen. Es entstand eine Ueberschwemmung, ein
Erdbeben, und in Zeit von einer Nacht und einem Tag verschwand jene
Atlantis, deren höchste Spitzen, Madera, die Azoren, die Kanarien,
die Capverdischen Inseln noch hervorragen.
Diese historischen Erinnerungen rief die Inschrift
des Kapitäns Nemo in meinem Geiste wach. Also hatte mich das
seltsamste Geschick dahin geleitet, daß ich auf einem der Berge
dieses Continents stand, die Ruinen aus der Urzeit der geologischen
Epochen mit Händen zu berühren im Stande war!
Ach! wie bedauerte ich diesen Mangel an Zeit! Gerne
wäre ich die steilen Abhänge des Berges hinabgestiegen, um
den unermeßlichen Continent ganz zu durchlaufen, der ohne Zweifel
einst Afrika mit Amerika verband, um die großen Städte der
Urzeit zu besuchen.
Während ich über diesen Gedanken in
Träume versank, und alle Details dieser großartigen
Landschaft mir einzuprägen bemüht war, stand auch der
Kapitän Nemo, wider eine bemooste Säule gelehnt, in stummes
Träumen verloren.
Eine volle Stunde blieben wir an dieser Stelle, und
betrachteten beim Glanz der Laven die ungeheure Ebene. Aus der Tiefe
drang ein Getöse, das klar durch die umgebenden Gewässer
drang, und mit majestätischer Fülle widerhallte.
In diesem Augenblick schien auch der Mond eine Weile
durch die Masse der Gewässer, und warf einige bleiche Strahlen auf
den versunkenen Continent. Nur ein Schimmer zwar, aber von
unbeschreiblichem Effect. Der Kapitän erhob sich, warf einen
letzten Blick auf diese unermeßliche Ebene; darauf winkte er mit
der Hand, ihm zu folgen.
Wir stiegen rasch den Berg hinab. Als wir den
mineralischen Wald einmal hinter uns hatten, sah ich die Leuchte des
Nautilus gleich einem Stern glänzen. Der Kapitän schritt
gerade darauf los, und wir befanden uns wieder an Bord, als eben das
erste Schimmern des Morgenroths die Oberfläche des Oceans traf.
[Digitale Bibliothek, Bd. 105. Jules Verne, Bekannte und unbekannte
Welten. Romane: Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer. Jules Verne: Werke,
S. 4747]