NC NBCF HNB oder Schwitters in Bochum

Wür haben 700 Unüwärssidäden, 250 Gunschdagadämiehen, mit 23 500 würglüchen Gähaimrädden, 400 Musäen müt 652 Süxtünüschen Matonnen, 10 000 Fach unn Kefärpeschulen, 100 000 Lärersäminahre, runnt aine halpe MüLLION Schulen, unnt ssi gennen sich mit Ürer Wandasie gaum austenken, was bai unnss Würklichkait gäworten ist.
Aus: Kurt Schwitters, Der sächsische Ozean
 

Wer aufmerksam durch die naturwissenschaftlichen Gebäude der Ruhr-Universität Bochum geht, wird seltsame Buchstabenfolgen an den Wänden entdecken. Auf den ersten Blick scheinen sie keinen rechten Sinn ergeben zu wollen, erst das laute Rezitieren offenbart einen seltsam vertrauten Rhythmus und Klang. Kenner fühlen sich unmittelbar an Werke des großen Hannoveraner Dichters Kurt Schwitters erinnert.
Dies ist zunächst nur ein hübscher Zufall, denn warum sollten sich ausgerechnet Zeilen von Schwitters an den kargen Betonwänden der Bochumer naturwissenschaftlichen Fakultäten finden?

Welche Motivation mag den Architekten beim Entwurf dieser ungewöhnlichen Wandgestaltung geleitet haben? Wer sich genauer mit der Baugeschichte der Bochumer Universität befasst, dem werden erstaunliche Einsichten zuteil: Anders als die naturwissenschaftlichen Gebäude, die von Eller, Moser & Walter (Düsseldorf) entworfen worden waren, geht die Wandgestaltung auf den gefürchteten Architekten Hirmel Hämmer (Hannover) zurück, dem es immerhin vergönnt war, in einer obskuren Passage in Die Reißprobe verewigt worden zu sein.

Hirmel Hämmer hatte einst als Kind die Gelegenheit, Schwitters persönlich zu erleben, der ein gern gesehener Gast auf den Cocktailpartys seiner Eltern war. Die Entwürfe für die neue Bochumer Universität boten Hirmel endlich die Gelegenheit, dem geschätzten Dichter ein Denkmal zu setzen. Die auf den ersten Blick seltsamen Buchstabenfolgen sind Auszüge aus einem bisher unveröffentlichten Frühwerk von Schwitters, lautpoetische Miniaturen, welche die groß angelegte Ursonate vorwegnehmen. Die minimalistischen Textentwürfe finden sich in privaten Briefen Schwitters an Horrbar Hämmer, dem Vater von Hirmel.

Hinter der wandgewordenen Schwitters-Hommage verbirgt sich ein höchst ehrenwertes Ziel, nämlich breite Bildung im Humboldtschen Sinne zu vermitteln. Die künftigen Generationen von Physikerinnen und Physikern, Chemikerinnen und Chemikern sowie Biologinnen und Biologen sollten sich eben nicht nur im doch sehr eingeschränkten Bereich des eigenen Studienfaches bilden. Die Anleitung zum Blick über den eigenen Tellerrand beschränkte sich selbstverständlich nicht auf die Naturwissenschaften. So lässt sich etwa an den Wänden der geisteswissenschaftlichen Gebäude die Matrizenform der Quantenmechanik nach M. Born, W. Heisenberg und P. Jordan nachlesen.

Doch letztendlich scheiterte das ebenso lobenswerte wie ehrgeizige Hämmersche Projekt an den Mauern der Ignoranz. Der überwiegende Teil der Universitätsangehörigen hielt (und hält bis heute) die Schriftzüge an den Wänden für schlichte Wegweiser. Dies ist nicht nur deshalb tragisch, weil sich immer wieder Leichen fehlgeleiteter Studentinnen und Studenten (meist erst nach Jahren) in abgelegenen Kellergewölben finden. Auch der Architekt selbst verfiel, als er sich so gründlich mißverstanden sah, immer mehr in Depressionen. Nachdem er als Abschied ein Shakespeare-Sonett an den Wänden der Ingenieurwissenschaften hinterlassen hatte, stürzte er sich verzweifelt vom Verwaltungsgebäude. Damit scheiterte nicht nur ein Versuch, breite humanistisch-naturwissenschaftliche Bildung zu vermitteln, es entstand auch die Legende von der hohen Selbstmordrate an der Bochumer Uni.

ESMERALDA SKIWSKIBOWSKI

© 2005, Esmeralda Skiwskibowski und edition edgar lösel